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Vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis
Wir wir uns Dinge lange merken
„Mamma mia, sind die denn alle doof?“ Gianni Golfera war 14, als er sich das erste Mal so richtig über andere Menschen wunderte. Man stelle sich das nur vor: Da trifft er Freunde, mit denen er als Dreijähriger gespielt hat. Und was behaupten die? Dass sie sich nicht daran mehr erinnern könnten!
Wollten die ihn auf den Arm nehmen? Gianni sieht die Erlebnisse vor sich, als seien sie gestern gewesen. Überhaupt erinnert sich der Junge an alles: an jede Fernsehsendung in seinem Leben und an jedes Gespräch. An Namen, Gesichter und alle Bücher, die er jemals gelesen hat; sogar an ellenlange Zahlen.
Klaro, Zahlen sind kinderleicht: zehn Ziffern oder 100 – Gianni wirft einen Blick darauf, und sie bleiben auf immer in seinem Kopf.
Wie unser Gehirn funktioniert
Giorgio Benevenuti/dpa
Gedächtnis-Wunder: Der Italiener Gianni Golfera hat mehr als 250 Philosophiebücher gelesen – und sich jede Kleinigkeit gemerkt. Ein paar der schwierigen Schmöker zeigt er auf dem Foto
Launisch wie eine Diva
Gianni Golfera ist 24 Jahre alt und in Italien wegen seines phänomenalen Gedächtnisses berühmt. Vor kurzem haben ihn sogar Ärzte untersucht, um herauszufinden, warum sein Merkapparat wie ein Computer funktioniert. Denn das ist äußerst selten.
Das Gedächtnis der meisten Menschen ist eher launisch wie eine Diva: Manche Dinge merkt es sich gern. Andere halb. Und wenn es gerade keine Lust hat, tritt es – ätsch! – einfach in Streik! Sicher habt ihr auch schon mal fleißig für eine Klassenarbeit gelernt – und in der Schule fiel euch dann trotzdem nichts mehr ein.
Was geht ab im Gehirn?
Wie merkt sich unser Gehirn Dinge? Wissenschaftler haben herausgefunden, dass es in mehreren Schritten arbeitet. Neuigkeiten von Augen oder Ohren werden gleich an das „Kurzzeitgedächtnis“ geschickt. Das heißt so, weil es Informationen nur ein paar Sekunden bis Minuten speichert.
Oft reicht das vollkommen aus: etwa um einen Satz niederzuschreiben, den euch euer Lehrer diktiert hat. Oder um sich die Telefonnummer von Freunden zu merken. Seht euch mal kurz die Zahl 3918137 an. 3-9-1-8-1-3-7. Und jetzt wiederholt ihr sie mit geschlossenen Augen. Das ist kein Problem, oder?
Vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis
Nach ein paar Augenblicken verblassen Wörter und Zahlen im Kurzzeitgedächtnis. Aber natürlich gibt es Sachen, die wir uns länger merken müssen – denkt nur an euren Namen: Wenn ihr den alle paar Minuten vergessen würdet, wäre das megapeinlich. Deshalb werden die Informationen nun an das Langzeitgedächtnis weitergeleitet.
Nur das Wichtige bleibt hängen
Wie unser Gehirn funktioniert
Martin Baltscheit
Ob die wohl auch Memory spielen können? Elefanten sollen ein fabelhaftes Gedächtnis haben und Menschen noch nach Jahren erkennen. Darüber gibt es zumindest viele Geschichten
Das Langzeitgedächtnis kann Wörter, Bilder, Gerüche oder Töne jahrelang speichern. Allerdings hat es einen sehr strengen Wächter: das limbische System in der Mitte unseres Kopfes. Dieser Hirnbereich überprüft jede Neuigkeit genauestens. Ist sie wichtig? Gut oder schlecht? Oder wenigstens witzig? Viele Nachrichten wirft es dann einfach weg. Andere lässt es durch, und besonders jene, bei denen ihr starke Gefühle empfindet.
„Liopleurodon“ – Ist doch ganz einfach!
Wenn euch beispielsweise ein großer Schüler in der Schule bedroht, zittert ihr natürlich vor Angst. Angst hält euer Gehirn für wichtig. Deshalb schickt es den Steckbrief des Blödmanns sofort ins Langzeitgedächtnis. Auch bei Dingen, die Spaß machen, läuft unser Oberstübchen zu olympiareifer Form auf: Dino-Fans können Dutzende der Uraltviecher aufzählen – selbst wenn die so komplizierte Namen haben wie „Liopleurodon“ oder, ächz: „Eustreptospondylus“. Die haben sie gelernt, ohne sich eine Sekunde anzustrengen!
Das bleibt draußen!
Was uns nicht interessiert, ist für unser Gedächtnis hingegen ein harter Brocken. Am schlimmsten sind für viele Menschen Zahlen. Erinnert ihr euch noch an die Nummer, die ihr vor drei Minuten gelesen habt? 3…? Die ist jetzt wahrscheinlich weg, stimmt’s? Denn die fand euer limbisches System superöde.
Und – STOP! DU kommst hier nicht rein! – hat sich deshalb geweigert, sie ins Langzeitgedächtnis zu lassen. Aus diesem Grund fällt euch auch das Lernen in der Schule so schwer, wenn ihr ein Fach langweilig findet.
Wir wir uns Dinge lange merken
Wie das Langzeitgedächtnis arbeitet, wissen Forscher bis heute nicht genau. Fest steht: Es sitzt nicht nur an einem Platz im Gehirn. Das limbische System schickt die wichtigen Nachrichten vielmehr an ganz verschiedene Stellen der Großhirnrinde.
Die Großhirnrinde ist der schlaueste Teil unseres Gehirns und ähnelt ein bisschen einem Dschungel. Sie besteht aus vielen Milliarden Nervenzellen, die miteinander verwoben sind. Durch diesen Urwald sausen die Gedanken nun wie elektrische Blitze: von einer Zelle zur nächsten. Mal nach links, dann nach rechts, im scharfen Bogen nach oben…
Und dabei hinterlässt jeder Gedanke eine eigene Spur im Gehirn – fast wie ein Abenteurer, der sich mit dem Messer einen Weg durch den Dschungel schlägt. Diese Spur kann das Gehirn später wiederfinden. Dann erinnern wir uns an Namen und Bilder.
Wie unser Gehirn funktioniert
R. Schulz-Schaeffer & Sigmar Münk, Quelle: Hans J.Markowitsch/Uni Bielefeld
So gelangen die Erinnerungen in unser Langzeitgedächtnis: Alles, was wir sehen (1) oder hören, erreicht über Nervenleitungen das limbische System. Das ist wie ein Band um den so genannten Balken gespannt (2). Zuerst prüft es, was ihm wichtig und was ihm unwichtig erscheint. Das Wichtige schickt es weiter an die Großhirnrinde (3), die äußere Schicht des Gehirns: Das Gesicht einer Freundin vielleicht hinter die Stirn (4). Das leckere Frühstück etwa (5) und die Urlaubserinnerungen (6) nach rechts hinten. Von diesen Speicherstellen werden die Erinnerungen dann bei Bedarf wieder abgerufen.
Durch Übung in Topform
Bei einigen Genies wie Gianni Golfera klappt dieses Kunststück perfekt. Die meisten von uns können sich nicht an alles erinnern, was sie im Kopf haben. Aber – gut zu wissen – durch ein bisschen Übung kann man sein Gedächtnis zumindest fitter machen. Lesen, Schreiben oder Diskutieren ist zum Beispiel ein prima Training.
Auch Sport ist gut, weil er die Durchblutung des Gehirns fördert. Und Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder, die Musikinstrumente spielen, sich besser merken können, was andere sagen.
Schlapp durch Fernsehen
Bestimmte Dinge machen das Gedächtnis hingegen so schlapp wie Pudding: Fernsehen, weil man dabei kaum denken muss. Oder Computerspiele. Da wird das Gedächtnis mit Tausenden von Bildern bombardiert, die es gern aufnimmt, weil sie Spaß machen. Auf sinnvolle Sachen, wie den Stoff in der Schule, hat es dann gar keine Lust mehr.